Hamburger Berg  

Es war eine Dame, die da durch den Saal ging, eine Frau, ein junges Mädchen wohl eher, nur mittelgroß, in weißem Sweater und farbigem Rock, mit rötlichblondem Haar, das sie einfach in Zöpfen um den Kopf gelegt trug. Ihre blauen Augen sahen wach und frisch in den halbdunklen Raum und sie flogen umher nahmen wahr, was ringsrum geschah und trotzdem ging sie weiter. Er sah sie nicht nur, er inspizierte sie, folgte ihrem federnden Schritt, der sie über den abgewirtschafteten Holzboden trug, als schwebe sie und dennoch war die Sicherheit ihrer Schritte zu spüren. Ihre Erscheinung passte so wenig hier her wie eine Glasmurmel in einen wochenlang ungeleerten Aschenbecher. Der Saum ihres Rockes wippte sanft während sie auf die hölzerne Tür zuschritt, die zu den Toiletten führte. Er nippte an seinem Bier ohne hinzusehen, ohne seinen Blick von ihr zu lösen und er gab nicht auf, ihren Schritten zu folgen, die streng und organisiert schienen, kein Anflug von Unsicherheit, Verletzbarkeit oder gar einem wunden Punkt. Jemand wie sie war hier fehl am Platz, ihre Beine zu kurz, die Figur zu zierlich, ihr Hintern zu flach, die Brüste sowieso. So eine wie sie, so sauber, fast strahlend, die war nicht von hier, musste sie aber sein, sonst wäre sie nicht hier, nicht hier drin. Ihr weißer Sweater war makellos, ohne die üblichen kleinen Knötchen, die sich bildeten, wenn Stoff an Stoff rieb und sich der Schmutz darin sammelte, wie neu, vielleicht war er das sogar. Dennoch, was hier sonst neu war, war anderswo schon alt, anderswo verschlissen, anderswo ungewollt, anderswo Müll. Sie würde den Sweater auf den Toiletten ruinieren, er würde den urinschwangeren Geruch der Luft annehmen, der in der Nase beißt, wenn man ihn nicht gewohnt war. Wenn sie mit dem Ärmel an den mit Graffiti beschmierten Toilettenwänden entlangstrich, aus Versehen, wie es manchmal passierte, wenn man versuchte die verzogenen alten Türen zu schließen, sich dagegen presst, um sie in den Rahmen zu drücken, den kleinen Riegel vorzuschieben, der an den meisten Türen ohnehin nur noch an einer Schraube hing oder gar nicht mehr vorhanden war, dann wäre er beschmutzt und es würde nicht mehr lange dauern, bis die kleinen Knötchen entstünden. Als er seinen Korn hinunter kippte und er spürte, wie der Fusel im Hals und auf der Zunge brannte, drückte sie die Tür zu den Waschräumen auf und verschwand rockschwingend, fast elegant, in den siffigen Abort. Es war konnte er hören wie die Sohlen ihrer Stiefel auf dem Boden festklebten und sich bei jedem Schritt mit einem Schmatzen wieder von den alten Dielen lösten, starr vor Dreck. In der Kabine hob sie ihren Rock, zog sie ihre Strumpfhose, frei von Laufmaschen, und den Slip herunter und hockte sich über die Toilettenschüssel, über den schwarzen Rand zerkratzt, zersprungen, verdreck, halb lose. Sie war keine von denen, die sich hier einfach setzten und trotzdem war sie mutig genug hier ihre Notdurft zu verrichten. Am Tresen setzte sich ein Alter; sein Gestank zog zu ihm rüber, süßlich, modrig, madig, irgendwie verwesend. Er hustete dem Wirt seine Bestellung entgegen, griff nach einem Bierglas, noch halb gefüllt mit schalem Fa-Ko, auf der Theke, fischte mit zwei nikotingelben, knorrigen Fingern den Zigarettenstummel heraus und trank in einem Zug, ohne zu schlucken, aus. Das mahlende Quietschen der Türangeln zog seine Aufmerksamkeit auf sich, nur weil er darauf gewartet hatte, niemand sonst nahm Notiz von dem alltäglichen, allstündlichen Geräusch. Wäre es ihm nicht bekannt gewesen, hätte er seinen Blick nicht von der Tür abgewendet, weil er es aber kannte, konnte er sich darauf verlassen, die Rückkehr des Mädchens nicht zu verpassen, nicht einen ihrer Schritte durch das heruntergekommene Lokal zu versäumen und heftete seine Augen nun wieder an sie. Jetzt konnte er ihr Gesicht sehen. Alles an ihr war klein, zierlich, niedlich. Dichte Brauen rahmten ihre aufmerksamen Augen in denen ein lebendiges Leuchten lag ohne aufdringlich zu sein. Frech, aber nicht kindlich, offen, aber nicht naiv, wissend, aber nicht weise. Der Ausschnitt ihres Sweaters war auf der rechten Seite über ihre Schulter gerutscht, ehrlich unbeabsichtigt, denn im Gehen zog sie ihn mit ihrer linken Hand wieder herauf. Ihre schmalen Finger mit den unlackierten Nägeln schlossen sich um den weichen Stoff, der runde Falten warf während sie ihn griff, dann ließ sie ihn an der richtigen Stelle, über dem Schlüsselbein, fallen und sie war wieder makellos.
Ihre Schritte schwebten über den rotzigen Holzboden und dennoch hörte er das Schmatzen der Schuhe, sah sich ziehende Fäden zwischen Sohle und Dielen, die sich lösten und zusammenfielen, wie Kaugummi zogen, rissen und schmatzten, doch sie trotzte dem Dreck, dem Abschaum, ihm.
Ihm? Um ihn herum das summende Stimmengewirr, die dröhnende Musik, klirrende Flaschen, Stöhnen, Husten, Röcheln. Stille. Der Gestank der Nacht am helllichten Tag, schales Bier, scharfer Fusel, Kotze, Verwesung. Türkische Nelken. Jeder anderen hätte er ein Getränk spendiert, sie um den Finger gewickelt, umgarnt, gesäuselt, komplimentiert. Spätestens im Dritten oder Vierten, das bisschen Pulver und schon... Jede. Nicht die. Ihm gegenüber der Fremde, den er hier noch nie gesehen hatte, mit seinen öligen Haaren, dem spröden Bart, wie er sie anbiederte, wie er hier jede anbiederte. Unverhohlen starrten sie einander an, mit ausdruckslosen Mienen, leeren, glasigen Augen. Er war auch nur ein Zigarettenstummel im wochenlang ungeleerten Aschenbecher und nichts weiter als der Rest hier unten. Blutunterlaufene Augen sahen starr ins Leere. Die Adern wanden sich wie ausgetrocknete Flüsse über seine Augäpfel, die Iris lag grau da wie ein toter See und hatte nie Schönes gesehen, nie gestrahlt, nie vor Glück geweint, vielleicht niemals geweint. Im Augenblick als die Kälte der Straße hereinkroch, seine Schultern berührte und er sich zur Tür umdrehte, sah er sie nur noch wie unwirklich, verschwommen, als sei sie nie da gewesen, wie eine vage Erinnerung an die beiden Kinder, die mit ihren Murmeln im Sand spielten, als sei es nie gewesen.
Und als die Tür hinter ihr zuschlug konnte er im Spiegel hinter der Bar den Fremden nicht mehr erkennen.

Es handelt sich hierbei um einen kreativen Ansatz und einer Inspiration durch Thomas Manns Zauberberg. Der erste Satz dieses Textes ist seinem Roman "Der Zauberberg" entnommen.